Verankerungen der ländergemeinsamen Themenfelder und Lektüren im Unterricht
Die ländergemeinsamen Themenfelder und Lektüren stellen Schwerpunktsetzungen innerhalb des Unterrichts der Kursphase dar, die in der Regel die Lehrplaninhalte akzentuieren und vertiefen. Dabei geht es jedoch nicht darum, die genannten Themen im Unterricht literatur-, sprach- oder medienwissenschaftlich erschöpfend zu bearbeiten, sondern altersgerecht unter Berücksichtigung der Lehrplaninhalte und vor allem unter dem Aspekt der Auseinandersetzung mit literarischen Texten bzw. Sprache und Kommunikation zu behandeln.
Gleichwohl bietet es sich an, während des Unterrichts an geeigneter Stelle vergleichende Bezüge zwischen dem Themenfeld und anderen Lehrplaninhalten herzustellen sowie die Auseinandersetzung mit den ländergemeinsamen Lektüren mit anderen Lehrplaninhalten zu vernetzen. Auch sollen die Themenfelder und ländergemeinsamen Lektüren zur zielgerichteten Vorbereitung auf die schriftliche Abiturprüfung in Leistungserhebungen der Profil- und Leistungsstufe in angemessener Weise berücksichtigt werden. Somit sollte die unterrichtliche Auseinandersetzung aller vier festgelegten Themenfelder und Lektüren möglichst vor der letzten Klausur erfolgen.
Vor diesem Hintergrund ist insbesondere zu überlegen, wie der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit einem festgelegten Werk der Gegenwartsliteratur angemessen Raum für eine vertiefte Beschäftigung und Vernetzung mit anderen Inhalten gegeben werden kann. Bei einer weitgehend chronologisch-literaturgeschichtlichen Ausrichtung der Unterrichtsplanung sollte dieser Lektüre demnach ausreichend Zeit vor der unmittelbaren Abiturvorbereitung eingeräumt werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Werk vorzuziehen und beispielsweise zu Beginn der Profil- und Leistungsstufe als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit verschiedenen Motiven sowie den Epochen und Strömungen der Literatur zu nehmen. Auch wenn für die bundesweite Festlegung der Lektüren verstärkt Werke der Gegenwartsliteratur herangezogen werden, bietet der Lehrplan darüber hinaus auch die Möglichkeit, eine weitere, selbstgewählte Lektüre der Gegenwart im Kurs zu lesen.
Die im Folgenden dargestellte Übersicht bildet ein mögliches Integrieren und Vernetzen einer ländergemeinsamen Lektüre in den Unterricht der Profil- und Leistungsstufe am Beispiel von Georg Büchners „Woyzeck“ exemplarisch ab.
Integrieren der exemplarischen ländergemeinsamen Lektüre von Georg Büchners „Woyzeck“ in den Unterricht:
Im üblichen Rahmen einer Ganzschriftlektüre; die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass die Sequenz ca. 12 – 16 Stunden umfasst.
Mögliche Komponenten:
- Erschließen der Handlungsmotive, Figurengestaltung und Konflikte,
- Analyse der Figurensprache unter Berücksichtigung der Wirkung sprachlich-rhetorischer Mittel,
- Analyse der Wirkung dramaturgischer Gestaltungsmittel und der lyrischen Elemente (Lieder),
- Analyse der Gestaltung konzeptioneller Mündlichkeit und ihrer Wirkung,
- Einbeziehen textexterner Bezüge (insbesondere biografische, poetologische, sozial- und literaturhistorische),
- Erwerben von Kontextwissen durch ausgewählte Dokumente zur Entstehungsgeschichte, zum geistesgeschichtlichen Hintergrund und zum Sprachverständnis,
- Erörtern unterschiedlicher Deutungsansätze,
- Analyse von Verfilmungen bzw. Theaterinszenierungen.
Mögliche Vernetzungen mit anderen Inhalten des Lehrplans im Lauf der Profil- und Leistungsstufe:
Im Zuge der Unterrichtseinheit zu Büchners „Woyzeck“:
- Kennen und Einordnen des Entstehungshintergrunds und der Rezeptionsgeschichte des Dramas sowie des biographischen Hintergrunds Georg Büchners1
Mögliches Wiederaufgreifen und Vertiefen auszuwählender2 Aspekte im weiteren Unterrichtsverlauf:
- Intertextuelle Bezugspunkte, Figuren- oder Szenenvergleiche, z. B. mit:
- Frauenfiguren: Gretchen in Goethe, „Faust I“
- Darstellung des Wahnsinns in Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“
- naturalistische Darstellungstechnik in Arno Holz und Johannes Schlafs „Papa Hamlet“ oder Gerhart Hauptmanns „Die Weber“
- karikaturhafte Figurengestaltung in Frank Wedekinds, „Frühlings Erwachen“
- Abkehr vom idealistischen Menschenbild: Gottfried Benns Morgue-Gedichte
- Situationen von Vereinzelung, Ohnmacht und Gewalt in Franz Kafkas Parabeln
- Fälle von öffentlichem Interesse: Der Prostituiertenmörder Moosberger in Robert Musil, „Mann ohne Eigenschaften“ (Erster Teil, Erstes Buch, 18. Kapitel)
- Darstellung eines Antihelden in Alfred Döblin, „Berlin, Alexanderplatz“
- Ernst Jandl: „ein motiv aus georg büchners ‚woyzeck‘“
- Beziehungs- und Kommunikationsstörungen in Daniel Kehlmanns „Ich und Kaminski“ (2003)
- Leben am unteren Rand der Gesellschaft in Thomas Melle: „3000 Euro“ (2014)
- …
- Pragmatische Texte erschließen und erörtern, z. B.:
- zur Ethik und Verantwortung der Wissenschaft (in Bezug setzen zur Figur des Doktors in „Woyzeck“)
- zum politischen Engagement Intellektueller
- Modellgeleitete Kommunikationsanalyse, z. B.:
- Inhalts- und Beziehungsaspekt von Kommunikation nach Paul Watzlawick in der 5. Szene „Der Hauptmann. Woyzeck“3
- Basil Bernsteins Theorie der elaborierten und restringierten Codes in Woyzecks Sprachstil in der 1. Szene „Freies Feld. Die Stadt in der Ferne"4
- Sprache und Sprachlosigkeit / Ellipsen als Form des Verschweigens in der 4. Szene „Kammer“5
- Analysieren rhetorisch ausgestalteter Kommunikation: Preisreden zum Büchner-Preis, insbesondere mit „Woyzeck“-Bezug (z. B. von Elias Canetti 1972, Heiner Müller 1985, Reinhard Jirgl 2010, Marcel Beyer 2016)
- Multimediale Umsetzungen von „Woyzeck“6:
- Literaturverfilmungen von Werner Herzog (1974) und Nuran David Calis (2013)
- Hörspiel-Performance von Boris Nitikin (Deutschlandradio 2010)
- Graphic Novel von Andreas Eickenroth (2019)
- „Woyzeck“ als Vergleichswerk für die Motivgestaltung in literarischen Texten7, z. B.: Eifersucht, Hierarchien, Individuum und gesellschaftliche Zwänge, religiöse Bezüge
1 vgl. Lehrplan-Bereich D12/13 2.2: Literarische Texte verstehen und nutzen: die zentralen Strömungen realistischer Literatur im 19. Jh. (v. a. Idealismus-Kritik, Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Ideen, Poetisierung der Wirklichkeit, Abbildung der sozialen Wirklichkeit im Naturalismus) in der Auseinandersetzung mit Literatur erschließen und reflektieren
2 Die folgenden Anregungen sollen die Bandbreite der Möglichkeiten aufzeigen. Sie sind jedoch zur Auswahl gedacht. Es ist nicht anzustreben, dass diese alle im Lauf der Kursphase abgebildet werden, da ja auch weitere Lehrplaninhalte sowie die anderen Themenfelder und Lektüren berücksichtigt werden müssen.
3 vgl. Lehrplan-Bereich D12/13 4.1: auf der Basis kommunikationstheoretischer Grundlagen das Gelingen bzw. Misslingen von Kommunikation untersuchen und reflektieren
4 vgl. ebd: Sprachliche Verständigung untersuchen und reflektieren: die Bedeutung der Sprache für die individuelle und gemeinschaftliche Identitätsbildung reflektieren
5 vgl. ebd.: verbale, paraverbale und nonverbale Gestaltungsmittel in ihrem Zusammenspiel analysieren und bewerten, Signale für Macht- und Dominanzverhältnisse identifizieren und sprachliche Handlungen kriterienorientiert in […] fiktiven Kommunikationssituationen bewerten
6 vgl. Lehrplan-Bereich D12/13 2.4: Weitere Medien verstehen und nutzen: Texte in auditiver, (audio-)visueller, szenischer, grafischer und multimedialer Erscheinungsform, auch hinsichtlich ihrer Intention und Wirkung und ggf. in ihrer kontextuellen Einbettung analysieren und interpretieren; dazu Verstehensentwürfe bzw. Deutungshypothesen beurteilen und die inhaltliche, gestalterische und ggf. ästhetische Qualität entwickeln und überprüfen
7 vgl. Lehrplan-Bereich D12/13 3.2: Texte planen und schreiben: anspruchsvolle literarische Texte […] interpretieren, geeignetes Kontextwissen einbeziehen und mithilfe von passenden Untersuchungskriterien gegebene oder selbst gewählte literarische Texte (z. B. auch Film, Graphic Novel) differenziert miteinander vergleichen, auch unter Heranziehung zusätzlicher Materialien